Die Senioren-Soko: Messeralarm - Leseprobe



 Leseprobe: 

Montag

Sie hatten sich sehr auf den Ausflug gefreut und heute war es endlich so weit. Mit dem Heimbulli fuhr die Betreuungskraft Narine sie zum See. Als sie ausstiegen, lachte ihnen die Sonne entgegen. Elfriede sog die milde Luft ein und gesellte sich zu Bruno, der seine Schlägermütze tief in die Stirn gezogen hatte. Sie übergab ihm ihre Bobtailhündin Tessa, die freudig um ihn herumwedelte, als hätte sie nicht gerade bereits mit ihm zusammen im Bulli gesessen.

Endlich waren alle älteren Herrschaften aus dem Bulli ausgestiegen und es ging los. Narine schob Gerda im Rollstuhl und Anton übernahm wie immer den Rollstuhl von seinem Freund Heribert. Brunhilde, die gern auf ihrem Rollator saß und dann im Rückwärtsgang ihre Ziele erreichte, hatte sich heute von Narine überreden lassen, den Rollator nicht als Fahrzeug, sondern als Gehhilfe zu nutzen. Sie lief fleißig vorneweg, und wenn der Abstand zu den anderen groß genug war, drehte sie sich um und nahm auf ihrem Sitz Platz. Mit einem triumphalen Lächeln blickte sie dann dem Rest der Gruppe entgegen, der sich ihr im gemächlichen Tempo näherte. Als Erstes rückten Gerda und Heribert in den Rollstühlen mit Narine und Anton heran. Das Schlusslicht bildeten Elfriede und Bruno zusammen mit Tessa.

Sie spazierten den geschwungenen Weg zwischen den Schatten spendenden Bäumen am See entlang. Alles war schön, beinahe perfekt. Zu perfekt, wie Elfriede später dachte. Die Gruppe hatte ihren Spaß. Das konnten auch die anderen Spaziergänger sehen, die ihnen vereinzelt entgegenkamen. Bei Gerda und Brunhilde konnte man es auch deutlich hören. Gerda war beim Anblick der Enten ins Schwärmen geraten und Brunhilde rief ihr Gustav in Erinnerung, Elfriedes Lieblingserpel, der tatsächlich einmal Heriberts Würfelzucker gegessen und als Dank seinen Entendreck auf Heriberts Decke hinterlassen hatte. Heribert, der kaum noch zusammenhängende Sätze hervorbrachte, ließ sich nun zu ein paar abgehackten Kommentaren hinreißen.

Alle lachten. Außer Elfriede, die war zu sehr in Gedanken versunken. Sie dachte über den Spaziergang heute Morgen nach, an den Mann, den ›Tessa-Hasser‹, wie sie ihn nannte, und daran, wie er ihr gedroht hatte. Ihr und ihrer Tessa. Zumindest in Elfriedes Herzen war es ihre Hündin. Leider lebte sie mittlerweile nicht mehr bei ihr, denn Elfriede war vor einiger Zeit in das Altenheim ›Sonnenstube‹ gezogen und Tessa war daraufhin mitsamt den Vorräten an Hundekauknochen, Trockenfutter und Lieblingskuscheltier zu Elfriedes Tochter Frauke ausgewandert. Wenigstens hatte Elfriede das Glück, dass Tessa sie oft besuchte. Und dass sie sogar hin und wieder noch mit ihr spazieren gehen konnte. So auch heute Morgen, als der Tessa-Hasser mit ihr einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Einen Streit, bei dem er beinahe handgreiflich geworden wäre. Wie gut, dass sie ihren Stock dabeigehabt hatte.

Diese Gedanken beschäftigten sie so sehr, dass sie das Messer erst gar nicht wahrnahm. Es zischte vor ihr vorbei, streifte Tessa und landete in Heriberts Brust.

Tessa jaulte auf, riss Bruno die Leine aus der Hand und jagte davon.

Elfriedes Gedankenkarussell verpuffte. Die Bilder auf ihrer Netzhaut zeigten die davoneilende Hündin. Und die Wunde in ihrem Fell, die das Weiß mit Rot durchtränkte. Elfriede Greismann riss ihren Rollator rum, spürte einen stechenden Schmerz im unteren Rücken, biss die Zähne zusammen und eilte, so schnell sie konnte, ihrer Hündin hinterher. Die Rufe und den Tumult hinter sich nahm sie kaum wahr. Das Einzige, was sich ihr ins Gedächtnis gebrannt hatte, war der rote Strich in dem weißen Fell. Und Tessas Jaulen.

›Der Tessa-Hasser‹, dachte sie, ›er hat zugeschlagen.‹

Sie fand ihren Hund nicht. Sie war zu langsam. Nach fünfzig Metern, die sie in ihrem hohen Alter in einem für sie Wahnsinnstempo hingelegt hatte, ging ihr die Luft aus. Tessa war nicht mehr zu sehen. Dafür spürte sie, dass hinter ihr irgendetwas im Gange war. Sie runzelte die Stirn. Da war ein ziemlicher Aufruhr bei den anderen aus ihrer Altenheimgang. Was war denn da los? Mit schmerzverzerrtem Gesicht und heftig atmend drehte sie sich um.

 Nanu, wo waren sie denn alle? Bruno, Gerda, Brunhilde, Heribert und die gute Narine? Sie alle schienen in einer Menschenansammlung verschwunden zu sein. Und jetzt vernahm sie auch noch ein Martinshorn. Elfriede ließ ihre Augen weiterwandern. Gerade fuhr ein Krankenwagen direkt auf die Menschentraube zu, die ein wenig auseinanderdriftete. Elfriede setzte sich in Gang. Jetzt fuhr auch noch ein Polizeiwagen heran. Herrje, Was war denn da noch alles passiert? Und wo war ihre Tessa? Sie würde gleich mal die Polizei fragen, ob sie suchen helfen könnten. Vielleicht war ja der nette Herr Neumann dabei. Der würde bestimmt helfen. Elfriede schob voran, die Augen fest auf das Geschehen gerichtet. Da! Da stieg auch schon der Herr Wamsmann aus. Der war jetzt nicht so nett. Aber wo Herr Wamsmann war, da war Herr Neumann nicht weit weg. Meistens zumindest. Nur stieg dieses Mal leider jemand Fremdes auf der anderen Seite aus dem Polizeiwagen.  

Völlig außer Atem bahnte Elfriede sich einen Weg durch die Menschenmasse. Dann sah sie es. Das Blut. Es durchnässte seine schöne hellbeige Hose, färbte sie in ein schmutziges Rot. Vornübergebeugt lag sein Oberkörper im Rollstuhl. Der Griff vom Messer war dennoch zu sehen. Er war elegant geformt. Das Holz sah grau und etwas abgenutzt aus. Die komischen Linien darauf waren vielleicht eine Gravur. Das Messerblatt steckte in Heriberts Brust. Ein Sanitäter hob den Oberkörper leicht an. Ein Raunen ging durch die Menge. Elfriedes Augen füllten sich mit Entsetzen. Panisch starrte sie auf ihre Hände. Ihr Herz pochte. ›Da ist kein Messer‹, sagte sie sich. Nein, das Messer lag nicht in ihren Händen. Es steckte in Heriberts Brust.

Walter Wamsmann begann, die Menge ein wenig zurückzudrängen. Bei Elfriede blieb er stehen.

»Sie?« Er schien nicht amüsiert. Elfriede aber nahm ihn kaum wahr. ›Heribert‹, dachte sie. Das Messer. Erinnerungen blitzten in Fetzen auf. Überlagerten das Geschehen hier, verschwanden wieder. Und dann war da wieder Heribert. Und das viele Blut. Sie rieb sich die Augen. Wamsmann stand immer noch vor ihr.

»Einen Schritt zurück, bitte«, sagte er und schob ihren Rollator zurück.

»Wo ist denn der nette Herr Neumann?«, fragte Elfriede.

»Strafversetzt.«

»Strafversetzt?« Das konnte doch nicht sein.

»Scherz. Aufgestiegen.«

»Wohin denn?« Irgendwie konnte sie mit der Äußerung nicht so viel anfangen.

Wamsmann verdrehte lediglich die Augen und drängte die nächsten Leute weiter zurück.

»Elfriede.« Bruno stand neben ihr.

Sie drehte ihren Kopf, ihren Oberkörper zu ihm und verzog das Gesicht. ›Blöder Rücken‹, dachte sie.

»Elfriede«, wiederholte Bruno. »Er ist tot.« Dann nahm er sie in den Arm.

Elfriede nickte.

Walter Wamsmann drängte sie weiter zurück. Der andere Polizist begann, das Absperrband auszurollen. Jemand zog sich Einmalhandschuhe an und begann, den Tatort und Heribert zu untersuchen.

Ein weiteres Fahrzeug hielt neben ihnen. Ein Mann stieg aus.

Elfriede erwachte aus ihrer Trance. »Herr Neumann«, rief sie und winkte.

»Ach, Frau Greismann. Was machen Sie denn hier?« Christian Neumann kam auf sie zu und gab ihr die Hand. Er war einfach immer nett, fand Elfriede und schenkte ihm ein Lächeln.

»Das da ist unser Freund Heribert«, sagte sie mit belegter Stimme und deutete auf den Leichnam.

»Oh«, sagte Neumann, »das tut mir leid.« Er wandte sich zum Tatort. »Ich muss dann jetzt«, sagte er.

»Haben Sie Ihre Uniform vergessen? Oder ist die in der Reinigung?«, rief Elfriede ihm hinterher.

»Weder noch.« Neumann schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Dann verschwand er unter dem rot-weißen Absperrband.

Elfriede blickte ihm hinterher. Das Band kam ihr genauso irreal vor wie Neumann ohne Uniform und Heribert in der großen Blutlache. Erneut fuhr ihr Blick erschrocken auf ihre Hände.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, hörte sie eine fremde Stimme neben sich. »Sie sind ja kreidebleich.« Elfriede schüttelte den Kopf, doch der Mann hakte sich bei ihr unter und führte sie Richtung Sanitätswagen. Gerda saß neben dem Krankenwagen in ihrem Rollstuhl.

»Gerda, geht’s dir gut?«

»Elfriede.« Gerda breitete ihre dicken Arme aus und ließ Elfriede darin eintauchen. Der Schmerz in Elfriedes Rücken explodierte. Elfriede wurde schwarz vor Augen. Gerdas dickes Gesicht an ihrer Wange nahm sie kaum wahr. Doch irgendwann spürte sie die Nässe, die Gerdas Tränen an ihrer Wange hinterließen. Elfriede versuchte sich zu befreien. Es gelang ihr nicht. Zum Glück kam ihr der Sanitäter, der linker Hand mit dem Blutdruckmessgerät an Gerda hing, zu Hilfe. Elfriede nickte ihm dankbar zu und Gerda wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Alles okay bei Ihnen?«, fragte auch dieser Sanitäter Elfriede, doch die hatte just wieder Neumann entdeckt, der neben Heribert stand und sich mit der in Plastik eingewickelten Person unterhielt.

Elfriede musste Neumann noch etwas mitteilen. Das war wichtig. Es ging um den Täter.

»Herr Neumann«, rief sie, »Herr Neumann.« Sie schob ihren Rollator an das rot-weiße Band heran, das sie von dem netten Polizisten trennte, den sie das erste Mal kennengelernt hatte, als ihr der Schmuck gestohlen wurde. Das war schon eine ganze Weile her. Damals hatte sie noch in ihrem Haus gewohnt und sie hatte die Kinder Joey und Klara kennengelernt. Und Klausmüller, den etwas speziellen Stoffesel. Seitdem hatte sie immer mal wieder etwas mit Christian Neumann zu tun gehabt, denn immer, wenn Elfriede Greismann irgendwie in Not geriet, dann rief sie ihren Lieblingspolizisten Neumann an. Das letzte Mal war das gewesen, als ihre Tessa im Wald diese Leiche entdeckt hatte. Das war schon schlimm genug gewesen. Doch das heute, das übertraf noch einmal alles. Denn heute hatte die Leiche einen Namen. Und sie hieß Heribert …

Elfriede schob ihre Gedanken beiseite. Sie musste sich auf das konzentrieren, was sie Neumann mitteilen musste. Doch noch kam sie nicht dazu, denn in diesem Moment entstand neben ihr ein Tumult, Menschen fuhren erschrocken auseinander. Einige schrien. Elfriedes Blick flog nach rechts. Und dann ging ihr Herz auf.

»Tessa«, rief sie und jetzt rannen die Tränen auch aus ihren Augen. »Tessa, komm her.« Sie klopfte auf ihren Oberschenkel und einen Moment später stand ihre Hündin neben ihr. Ihr Fell war rot gefärbt. Elfriede rief einen Sanitäter.

Elfriede mochte gar nicht hinschauen, als der Sanitäter Tessas Fell auseinanderzuppelte und dann die Wunde betrachtete. Er säuberte die Wunde und Elfriede betrachtete Neumann. Er unterhielt sich gerade mit Brunhilde, die wie immer auf ihrem Rollator saß und mit ausholenden Gesten etwas erzählte. Wahrscheinlich den Tathergang. Neben ihr stand Anton, den man wohl als den besten Freund Heriberts bezeichnen konnte. Er blickte nur starr geradeaus. Jetzt versuchte Brunhilde Anton tröstend über den Arm zu streichen. Der jedoch schlug Brunhildes Hand weg. Er war halt nicht so empfänglich für Trost und so. ›Müsste Brunhilde eigentlich wissen‹, dachte Elfriede. Brunhilde zog nun ihrerseits den Arm zurück.

»Hallo«, jemand klopfte auf Elfriedes Schulter. Der Sanitäter.

»Ihr Hund muss zum Tierarzt. Die Wunde muss genäht werden.«

Elfriede nickte. Zum Glück hatte Bruno sich seinen Weg zu ihr gebahnt. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er ihr sein Telefon hin. Elfriede wählte die Nummer ihrer Tochter. Nach einer scheinbar endlosen Zeit hörte sie endlich die vertraute Stimme von Frauke.

»Du musst sofort kommen und Tessa zum Tierarzt bringen«, brachte Elfriede ihre Nachricht auf den Punkt. Leider reichte ihrer Tochter das Wesentliche nicht.

»Warum soll ich Tessa zum Tierarzt bringen?« Elfriede hörte einen leichten Unwillen in der Stimme.

»Tessa ist verletzt. Sie blutet überall. Du musst sofort kommen. Schnell!«

»Moment. Was ist denn passiert?«

»Da hat jemand mit 'nem Messer auf Tessa gezielt.«

»Mit einem Messer?«

»Ja, der hat sie aber nicht ganz getroffen. Den Heribert aber. Der ist jetzt tot.«

»Was?« Jetzt klang ihre Stimme nicht mehr so widerwillig. »Wo seid ihr?«, fragte sie. »Ich komme.«


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