Die Senioren-Soko: Handtaschenalarm - Leseprobe


Gustav ohne Einsatz

Oma Greismann zog an der unteren Schublade ihres Nachttischschränkchens. Es dauerte ein wenig, bis sich das alte, verbogene Holz bewegen ließ. Doch schließlich gab die Lade Omas Ruckeln nach und eröffnete quietschend einen Spalt breit die Sicht auf das Innere.
Sie musste unbedingt Ricardo fragen, ob er ihr das olle Ding nicht mal reparieren konnte. Oder den Hausmeister. Obwohl, … der guckte immer so brummig. Also lieber doch Ricardo. Auch wenn der in der letzten Zeit so viel zu tun hatte, dass selbst Frauke ihn kaum zu Gesicht bekam.
Arme Frauke. Oma Greismann hatte wohl gespürt, wie sehr es ihrer Tochter zu Herzen ging, dass ihre große Liebe, mit der sie noch gar nicht so lange zusammen war, immer häufiger absagte. Allerdings hatte Oma Greismann nicht so wirklich tröstende Worte finden können. Das war etwas, da war sie nicht gut drin. Aber vielleicht sollte sie Ricardo mal auf die Finger klopfen. Dann, wenn er das Schränkchen wieder gängig machte, dann könnte sie ihn gleich mal ein wenig in die Schranken weisen. Elfriede nahm einen kleinen Zettel und schrieb: ›Ricardo: reparieren und auf die Finger klopfen‹. Sie legte den Zettel auf den Tisch neben ihr Telefon auf die Apothekenzeitschrift. Das kleine Messer, mit dem sie immer ihr Obst zurechtschnippelte, legte sie obendrauf. So, das war das.
Hm. Was wollte sie jetzt? Oma drehte sich um und ging zur geöffneten Nachttischschublade. Sie zog ihre Handtasche hervor, schob unter Ruckeln die Lade zurück und warf einen letzten Blick auf das Schränkchen. Oder sie ließ es einfach so, wie es war. Funktionierte ja irgendwie noch.
Die Handtasche stellte sie auf den Sitz ihres Rollators und etwas unbeholfen zogen ihre krummen Finger an dem Reißverschluss der Tasche. Sie beugte sich etwas weiter vor, als die krumme Haltung ihres Rückens ihr eh schon vorgab, und äugte ins Innere ihrer Tasche. Zwischen einer Regenhaube und einer Einlage fand sie das Gesuchte. Einen Augenblick später hielt sie ihr graues Portemonnaie in den Händen und öffnete den Druckknopf. Siebzig Euro fand sie im hinteren Fach. Das sollte reichen. Gut.
Sie stopfte das Portemonnaie zurück in die Tasche und verschloss diese, was ein wenig dauerte, weil die kleine widerspenstige Reißverschlussöse immer wieder zwischen ihren Fingern wegflutschte. Doch irgendwann hatte sie sie gebändigt und – zwupp – war die Tasche zu.
Jetzt musste sie nur noch in ihre Jacke kommen und dann wäre sie bereit für ihren Spaziergang. Ein Blick nach unten überzeugte sie davon, dass sie ihre Schuhe bereits angezogen hatte. Die Jacke verzögerte abermals ihren Aufbruch um gut fünf Minuten, doch schließlich war sie so weit. Zufrieden schlurfte sie mit ihrem Rollator zur Tür. Dass aber auch alle Aktionen im Alter so lange dauern mussten. Wie viel Zeit wohl schon vergangen war, seit sie den Entschluss gefasst hatte, heute noch einmal kurz bei der ›Tafel‹ vorbeizuschauen? Dort spendete sie in regelmäßigen Abständen etwas von ihrem Ersparten. Und den Bäckerladen, den durfte sie nicht vergessen. Da wollte sie unbedingt ein paar Kuchenteilchen kaufen, denn morgen wollte Tanja sie besuchen. Ker, was hatte sie das Wicht schon lange nicht mehr gesehen! Musste Jahre her sein. Mindestens ein oder zwei. Sie war ja so lange in England gewesen. Hoffentlich konnte sie noch Deutsch. Denn mit Englisch hatte Oma Greismann nie etwas am Hut gehabt.
Und auf dem Weg zum Bäcker gab es ja noch den Ententeich. Da konnte sie auf keinen Fall vorbeigehen, ohne die Enten zu füttern.
Das fiel Oma Greismann genau in dem Augenblick ein, in dem ihre Augen die beiden alten Brötchen erhaschten, die sie vom Frühstückstisch entführt hatte, und die nun auf dem Tischchen neben ihrer Tür auf ihre Mitnahme warteten.
»Ohhh«, stöhnte Elfriede ein wenig und ihre Augen wanderten hin und her zwischen den Brötchen, die sie unbedingt mitnehmen wollte, und der Handtasche, die, so verschlossen, wie sie jetzt vor ihr auf dem Rollatorsitz lag, mit Sicherheit keine Brötchen aufnehmen würde.
Elfriede nahm die Brötchen - jeweils eins in jede Hand – und betrachtete sie ausgiebig von allen Seiten. Schließlich stopfte sie die Gebäcke einfach rechts und links in ihre Jackentasche. So. Ging auch. Zufrieden schlurfte Elfriede den Flur entlang, bis Bruno ihr entgegenkam.
»Na, auch schon auf dem Weg zum Abendbrot?«, fragte er.
»Hä? Abendbrot?« Oma Greismann schaute ihn irritiert an. »Schon so spät?« Sie linste auf ihre Armbanduhr, deren kleinen Ziffern sie eh schon seit geraumer Zeit nicht mehr erkennen konnte. Hatte sie so lange fürs Ankleiden benötigt?
»Ja«, sagte Bruno. »Abendbrot ist in …« Er kniff ebenfalls die Augen zusammen und schob seinen Arm nah vor die Augen, um ihn kurz darauf wieder wegzuschieben. »… exakt zwanzig Minuten.« Er musterte Elfriede und schob seine Schirmmütze, die er in der Regel lediglich zum Schlafengehen abnahm, ein wenig höher. »Ich muss dir mitteilen, dass du fürs Abendessen zu dick angezogen bist.«
»Ich will ja gar nicht Abendessen. Ich mache einen Spaziergang.« Elfriede kam ein wenig näher und richtete sich weiter auf, um in die Nähe von Brunos Ohr zu gelangen. »Reservier mir mal ein weiches Brötchen«, raunte sie ihm zu. »Bevor die Gerda alle wegfrisst.«
Bruno hob seine Hand an die Mütze. »Jawohl«, sagte er. »Wird gemacht.« Er schlug die Hacken zusammen und eilte davon. Oma Greismann sah ihm noch einen Augenblick nach. Ein wenig humpelte er. Die Knie, dachte sie, ja, ja, die Knie.
Die gläserne Außentür im Eingangsbereich surrte beinahe geräuschlos auf und der frische Märzwind nahm Oma Greismann in Empfang. Sie stellte den Kragen ihrer Jacke auf. Tatsächlich. Die Dämmerung gab Bruno mit seiner Abendessenankündigung recht. Mit für Elfriede forschen Schritten stiefelte sie die Straße entlang und bog links in Richtung Ententeich ab. Sie würde sich zuerst um ihre gefiederten Freunde kümmern, bevor es zu dunkel war und sie sie gar nicht mehr sah.
Mit einem leichten Stöhnen ließ Elfriede sich auf die Parkbank sinken. Das Geschnatter vom Teich her zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
»Ja, meine Freunde«, sagte sie und legte ihre Handtasche auf den Schoß. »Kommt nur alle her! Mami hat etwas Leckeres für euch.« Sie zerrte am Reißverschluss der Tasche, rutschte ab und schalt sich eine Idiotin. So langsam gings aber hin mit ihr. Sie schüttelte den Kopf und kramte endlich das leckere Frühstücksbrötchen aus ihrer Jackentasche hervor.
Schon kam Gustav, der besonders schön gezeichnete Erpel, auf sie zu gewatschelt. »Na, komm her, mein Guter«, lachte Elfriede und begann, das Brötchen in kleine Stücke zu reißen. Das Schild neben der Bank mit dem Hinweis, keine Enten zu füttern, ignorierte sie. Das galt nicht für sie, hatte sie beschlossen. Schließlich hatte sie keine Tessa mehr, kein Haus mehr, kein gar nichts. Nur ihre Enten. Auch wenn es nicht ihre waren, in ihrem Herzen waren sie es. Und Gustav ganz besonders.
Heute jedoch konnte sie ihre zwei Brötchen nicht komplett zerreißen. Heute lief etwas schief. Es begann damit, dass Gustav sowie die anderen Enten, die er im Schlepptau mit sich führte, sich zur Seite drehten. Den gerade aufgenommenen Brotkrumen verlor der Erpel aus dem Schnabel, doch schien ihm keine Zeit zu bleiben, um das Brotstück erneut aufzupicken. Laut meckernd eilte er davon. Oma Greismann wollte sich gerade bei ihm erkundigen, was denn los sei, da spürte sie selbst, dass da irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Etwas, das ganz anders war. Etwas, das sie so hier nicht kannte.
Ein Geräusch.
Es war hinter ihr. Eine raschelnde Jacke oder so. Und das Gefühl, dass da in der Dämmerung jemand hinter ihr stand. Jemand, der nichts Gutes im Schilde führte. Erschrocken drehte Elfriede sich zur Seite. Der Schatten in ihrem Rücken war schneller, als sie schauen konnte.
Er huschte an ihr vorbei und riss ihr die Handtasche von den Beinen.
»Hey!«, rief Oma Greismann.
»Gack, gack, gack!«, tönte es aus den Entenhälsen.
Schnell hatte Elfriede noch nach dem Taschenriemen gegriffen. Sie spürte das Band in ihrer Hand. Sie drückte ihre Faust fest zusammen. Allerdings surrte der Riemen so schnell hindurch, dass alles, was ihr blieb, ein heißer Schmerz auf ihrer Handfläche war.
Oma Greismann griff nach ihrem Stock und schwang ihn drohend in die Höhe. Doch der Typ mit ihrer Handtasche in seiner Faust verschwand so rasch im dunklen Grau der Abenddämmerung, dass Elfriede nach einem Augenblick den Stock senkte und erst einmal tief durchatmete.
War das gerade wirklich passiert? Es war so schnell gegangen. Doch ihr aufgeregt schlagendes Herz und der Schmerz in ihrer Hand sagten ihr, dass sie sich das nicht eingebildet hatte.
»Ihr hättet ruhig mal mehr Einsatz zeigen können!«, schimpfte sie mit Gustav, der bereits zu ihren Füßen erneut Brotkrumen verspeiste, so, als sei nichts passiert.
Doch es war etwas passiert. Ihre Handtasche war weg. Und mit ihr das viele Geld und die Fotos von Frauke und Tanja, von Tessa und Klausmüller, von Klara und Joey, die alle in einem Fach ihres Portemonnaies gewohnt hatten.
Elfriede seufzte tief. Schließlich stand sie auf. Zur Tafel brauchte sie heute nicht mehr gehen. Tessa hätte sie man dabeihaben sollen. Dann hätte der Dieb aber Beine gekriegt. Die Bobtailhündin hätte sich den Kerl bestimmt geschnappt. Leider war die ja bei Frauke. Oma Greismanns Herz wurde schwer und ihre Schritte für den Rückweg kamen ihr doppelt so anstrengend vor.
Doch noch bevor sie den Eingangsbereich des Altenheims passiert hatte, hellte sich ihre Miene wieder ein bisschen auf. Wenn das man nicht ein neuer Fall für die Sonnenstuben-Soko war. Sie würde die anderen gleich mal zusammentrommeln. Oder doch lieber erst morgen nach dem Frühstück? Ja, das würde reichen. Heute würden sie sowieso nichts mehr erreichen. Bruno allerdings, den musste sie sofort informieren. Dann konnte er sich schon mal Gedanken für morgen machen. Denn Bruno war unausgesprochen so etwas wie ihr Einsatzleiter geworden. Zumindest beim letzten Fall, als der kleine Esel Klausmüller verschwunden gewesen war. Der Esel, der eigentlich ein Stoffesel war.

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