Verlorenes und Vergessenes
»Klaus Müller ist weg!« Die Stimme schnarrte laut in Fraukes Ohr,
während sie die Wohnung nach Tessas Hundeleine durchsuchte.
»Mama, bist du das?« Mit links hielt Frauke den Telefonhörer, mit rechts
entfernte sie sämtliche Kissen vom Sofa. Keine Leine. Mist.
»Ja, wer denn sonst?« Die Möglichkeit, dass jemand anderes Frauke
kontaktieren wollte, schloss Mama anscheinend aus. Außerdem hielt sie ihre
Tochter wohl für etwas begriffsstutzig, denn schon wiederholte sie: »Klaus
Müller ist von uns weggegangen!«
Tessa wedelte mit ihrem dicken Hinterteil um die Fünfundvierzigjährige
herum. »Wer ist Herr Müller?« Frauke war ein Herr dieses Namens nicht bekannt.
Es musste sich wohl um einen Bewohner des Altenheims »Sonnenstube« handeln. Da
hatte sie noch nicht alle Namen durch, was einerseits damit zu entschuldigen war,
dass Mama dort noch nicht sehr lange wohnte, und andererseits, dass die
Fluktuation der Bewohner doch recht hoch war. Erst gestern hatte Frauke sich im
Eingangsbereich in ein Kondolenzbuch für Frau Gertrude Ottenheimer eingetragen.
Sie hatte zwar keine Gertrude gekannt, wollte den Angehörigen aber doch ihr
Mitgefühl aussprechen. Und neben der Kerze das gerahmte Bild mit dem schönen
Sonnenuntergang und dem Spruch geisterte ihr auch noch durch den Kopf.
Nun also Herr Müller. Gott hab ihn selig.
»Das ist'n Esel.« Mamas Stimme klang immer noch kratzig. Und irgendwie
hart.
»Mama.« Auch Fraukes Ton war jetzt etwas rüde. Sie schubste Tessa
beiseite und stolperte über die Hundeleine, die plötzlich vor ihr lag. »So
spricht man nicht über Verstorbene.«
»Der ist doch nicht tot. Der ist nur weg!«
»Ach so.« Sie hob die Leine auf. »Die finden den wohl wieder. Gibt es
denn schon eine Vermisstenanzeige?«
»Wie denn das? Du bist die Erste, die das erfährt.«
»Moment. Wieso bin ich die Erste?« Tessas Hüftschwung wurde noch
größer, während Frauke versuchte, einhändig in ihrem dicken Fell das Halsband
und die dazugehörige Öse zu finden, um die Leine einzuhaken. »Wird er denn
nicht von den Pflegern vermisst?«
»Die geben da doch nichts drum, wenn ein Esel fehlt.«
»Herr Müller ist ein Esel?«
Tessa bellte und Mama sagte: »Das sagte ich doch bereits. Und er heißt Klausmüller.
Oder war es -meier? Du musst kommen und mir suchen helfen.«
»Mama, ich kann nicht. Ich muss mit DEINEM Hund spazieren gehen.« Das
musste sie jetzt mal etwas betonen. Schließlich machte ihr Mamas Riesentöle das
Leben auch nicht gerade einfacher.
»Komm doch mit Tessa hierher.«
Super Idee. Die stand so gar nicht auf Fraukes Plan. »Ich gehe jetzt
erst einmal mit Tessa in den Wald. Vielleicht komme ich danach noch kurz vorbei.«
Warum sagte sie das? Sie wollte doch gar nicht vorbeischauen. Eigentlich
wollte sie ihre Ruhe haben, einen Gang zum Friedhof machen. Die Kerze stand
bereits vorne im Flur auf dem kleinen Schränkchen. Sie ging gerne zum Friedhof,
zum Grab von ihrem Papa. Und das schon seit fast dreißig Jahren.
»Suchen wir dann Klausmüller?«
Frauke seufzte. »Mal schauen. Seit wann hast du denn einen Esel?«,
fragte sie. Gab's im Heim einen Streichelzoo?
»Der gehört Klara. Der macht nur bei mir Urlaub.«
Aha. So ganz schlau wurde Frauke da irgendwie nicht draus. Wer war
jetzt noch mal Klara?
»Mama, ich lege jetzt auf. Tessa wartet«, sagte sie mit einem Blick in
die braunen Hundeknopfaugen, die sie erwartungsvoll aus dem vollen
Bobtailhaarkleid anlachten. »Bis später.« Sie drückte auf den roten
Telefonhörer.
Und wie immer hatte sie ein
schlechtes Gewissen, und fragte sich, ob sie zu harsch reagiert hatte. Na,
wenigstens Tessa schien über die Kürze des Gesprächs erfreut zu sein.
Schwanzwedelnd zog sie Frauke aus der Wohnung nach draußen in die
spätnachmittäglichen Sonnenstrahlen.
*
»Tessa! Jetzt zieh nicht so!« Frauke versuchte, Tessa näher zu sich
heranzuholen, doch ihr Ruckeln schien die Hündin nicht zu beeindrucken.
Stattdessen zog sie Frauke den Waldweg entlang zum nächsten Baum. Als der Hund
endlich stand und irgendwelchen Bullshit an Informationen erschnüffelte,
lockerte Frauke die Schlaufe der Leine und rieb ihr Handgelenk. »Mann, Tessa.
Ich weiß ja wohl, dass das nicht optimal ist mit uns beiden, aber kannst du
nicht trotzdem mal ein bisschen Rücksicht auf meine Arme nehmen?«
Ein kurzer Blick aus treuen Hundeaugen traf Frauke und sie bildete sich
ein, da irgendetwas Vorwurfsvolles drin zu lesen. Okay, Tessa hatte es auch
nicht leicht. Den ganzen Tag, während Frauke im Büro saß, musste sie alleine zu
Hause verbringen. Bis vor kurzem hatte sie noch bei Fraukes Mutter gelebt, doch
seitdem Elfriede Greismann das Seniorenheim »Sonnenstube« mit ihrer Anwesenheit
bereicherte, verbrachte Tessa ihre meiste Zeit mit Frauke – na ja, oder mit Fraukes
Wohnung. Manchmal brachte Frauke sie auch für ein paar Stunden ins Heim. Aber sie
wollte die nette Zusage des Heimleiters, dass sie selbstverständlich ab und zu
die Hündin dort lassen dürfe, auch nicht überstrapazieren. Schließlich hatte sie
ihm Tessa nicht gezeigt und bestimmt hatte er gedacht, dass Mama eher so etwas
wie einen Schoßhund zurücklassen würde. Und nicht so eine Bobtailmasse.
Wieder hob Tessa ihren Kopf und blickte Frauke an. »Okay.« Sie seufzte
und blickte sich um. Sie waren zurzeit die einzigen Besucher dieses
Waldabschnittes. »Aber in der Nähe bleiben.« Frauke fingerte in Tessas dichtem
Fell herum. Endlich fand sie den Verschluss und drückte den Pin herunter. Tessa
dackelte ab und Fraukes Handy piepte. Es war dieses Erinnerungspiepen des
Kalenders.
Hä? Welchen Termin hatte sie denn jetzt wieder verpennt? Frauke zog das
Handy aus ihrer Jackentasche. Wo war die Kalender-App? Frauke scrollte die Apps
entlang, die Sonne blendete und endlich touchte sie auf ein Kästchen, das nach
einem Kalender aussah. Die App sprang auf und es fiel ihr wie Kontaktlinsen vor
die Augen: Sie hatte sich für einen Spanischkurs angemeldet. Und ihn dann
vergessen.
Heute war der erste Abend und sie hatte nicht vor, gleich beim ersten
Mal zu spät zu kommen. Beginn: 18.30 Uhr. Wie spät war es jetzt?
17.30 Uhr.
»Tessa!«, rief Frauke. »Komm! Wir müssen nach Hause!«
Doch Tessa beeindruckte die nächste Baumnachricht viel mehr als Fraukes
Spanischkurs. Sie trabte zur anderen Seite und Frauke rannte hinterher.
Kurz bevor Frauke sie erreichte, trottete sie weiter. Und weil Frauke
so hektisch wurde, ahmte Tessa sie nach. Sie wich ihr aus, bellte kurz und
setzte zu drei gewagten Galoppsprüngen an.
»Tessa, komm her«, lockte Frauke sie und hielt ihre rechte Hand so vor sich,
als hätte sie Leckerlis zwischen den Fingern. Doch darauf fiel Tessa nicht
rein.
Frauke wühlte in ihren Jackentaschen. Nichts. Kein Leckerli. Noch nicht
mal ein Schokorest. Dabei liebte sie doch Schokolade mit Nüssen. Die fand sich
eigentlich in allen Taschen und Jacken. Außer hier. Hier gab es nur eine
Grabkerze. Die würde Tessa nicht wollen.
Sie musste es also ohne Belohnungssystem schaffen.
Und sie schaffte es! Es dauerte
leider eine halbe Stunde. Aber dann konnte Frauke einen grunzenden Hund hinter sich
herziehen, während sie gleichzeitig versuchte, einen schnelleren Schritt
aufzulegen.
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