Klausmüller der Vierte
Leseprobe:
Schwarze Gespenster und Geld von Opfern
»Halt!« Klausmüller galoppierte mit weit ausgreifenden kurzen Beinen
hinter den Pferden Artistin und Domino her. Klara zügelte den alten Domino, der
sofort bereitwillig in Schritt fiel. Sie schaute sich um. Ihr kleiner
Stoffesel, der seit dem letzten Jahr kein normales Stofftier mehr war, schien
ein wenig außer Atem zu sein.
Auch Artistin und Joey verlangsamten ihr Tempo.
»Was ist?« Joeys Stimme klang so, als fände er es nicht gut, dass seine
Galoppade unterbrochen wurde.
»Ich brauche meine Sonnenbrille«, sagte Klausmüller und wich Tessa aus,
die die kurze Unterbrechung nutzte, um ihrem Lieblingsesel möglichst nahe zu
kommen.
»Klausmüller.« Man konnte meinen, ein Grollen in Joeys Stimme zu hören.
»Halten wir gerade wegen deiner sch…?«
»Ja, wegen meiner schönen Sonnenbrille halten wir an.« Fest schaute der
Esel aus seiner erdnahen Position zu Joey hoch, der mit einem leichten
Zügeldruck am Pferdehals Artistin gewendet hatte und nun ziemlich groß vor
Klausmüller stand. Noch größer als Tessa, die Bobtaildame, die sich mit
schlabbernder Hundezunge ebenfalls vor Klausmüller aufbaute. Irgendwie fehlte
jetzt noch Waltraud, dachte Klausmüller. Und sein Herz drückte gegen seine
Brust. Die süße kleine Hundedame, die Klausmüller bei seinem letzten Gruselgang
im Wald entdeckt hatte, hatte vor kurzem eine neue Familie gefunden.
Artistin schnaubte.
Klausmüller schnaubte zurück.
Und Tessa schleckte Klausmüller durchs Gesicht.
»Tessa! Lass das.« Das Gesicht abgewendet klopfte der Esel mit dem
rechten Huf Tessas Kopf entlang und schob schließlich die schlabberige
Hundezunge ins dazugehörige Maul. Den linken Huf stemmte er gegen das
Hundegesicht, um es in eine andere Richtung zu drehen. Im Vergleich zu früher
war er schon ganz schön abgebrüht, was den Umgang mit der Hundedame von Frau
Greismann anging, fand Klausmüller.
»Warum brauchst du denn deine Sonnenbrille? Wir reiten gleich in den
Wald. Da ist es dunkel und du läufst überall vor«, meinte Klara jetzt. Doch
stieg sie bereits vom Pferd und schaute in ihren Rucksack.
»Hier ist es aber hell! Die Sonne blendet.« Kopfnickend schaute
Klausmüller sich um. »Und außerdem bewerft ihr mich andauernd mit Erdklumpen.
Da muss ich mich schützen. Sonst könnt ihr meine Augen bald aus Erdhaufen
herauspuhlen.«
»Dann galoppier nicht direkt hinter Dominos Hufen.« Das war Joey. Mit
dem war irgendwie gerade nicht so gut zu verhandeln. Dabei war er vorhin noch
gut drauf gewesen, als er ihnen von der Kapelle erzählt hatte, in der so
romantische Kerzen flackerten und vielleicht ja sogar ein paar Gespenster für
Klausmüller herumflogen. Joey hatte sie 'Heilige' genannt, allerdings fand
Klausmüller 'Gespenster' schöner. Spannender.
Der Esel konzentrierte sich lieber wieder auf Klara, denn die zog
gerade seine super-duper Lieblingssonnenbrille hervor. Mit einem breiten
Grinsen schob er ihr seine Eselsschnute entgegen.
Doch dann hielt Klara inne. »Bist du sicher, dass die nicht geladen
ist?«, fragte sie.
»Hundertprozentig.« Klausmüller nickte. »Hat die ganze Zeit unter der
Bettdecke gelegen. Neben Emil.«
»Okay.« Etwas zögerlich schob Klara die Brille Klausmüllers Nase entlang.
Wie der Esel versprochen hatte, passierte nichts. Klara atmete auf und setzte
ihren Rucksack wieder auf den Rücken. Klausmüller schleuderte nicht durch die
Luft und die Sonnenbrille tat einfach nur das, was eine Sonnenbrille so tut:
Sie machte Klausmüllers Sicht dunkler. Ihre Magie, die Klausmüller schon so
manches Mal durch die Luft hatte katapultieren lassen, setzte sie nicht frei.
Klara stieg zurück aufs Pferd und Klausmüller versuchte ein paar
Tanzschritte. Die hatte er kürzlich bei YouTube gesehen. Er fand sich richtig gut,
sein Move sah mit Sicherheit voll cool aus, so in Kombination mit seiner
Sonnenbrille. Allerdings dauerte er nicht sehr lange. Denn noch bevor Klara
richtig im Sattel saß, brauste etwas an ihnen vorbei.
Vorbei an Artistin. Die wieherte und stieg.
Vorbei an Domino. Der grunzte (zumindest hörte es sich so an) und trat
einen Schritt nach hinten.
Vorbei an Tessa, die schnell ihre Zunge einzog.
Gegen Klausmüller. Der flog im hohen Bogen durch das Sonnenlicht,
vollführte einen Salto und klatschte mit einem 'Platsch' auf den Rasen.
»Klausmüller!«, rief Klara.
»Idiot!«, rief Joey.
»Ächz«, sagte Klausmüller.
Sie starrten einem Jungen in einem rotkarierten Holzfällerhemd
hinterher, der, ohne sich nach ihnen umzuschauen, weiter die Straße
entlangsauste. Unter seinen Füßen rollte das Skateboard, das Klausmüller zum
Flugesel hatte werden lassen.
»Was ist das denn für einer?«, schimpfte Joey, während Klara bereits
neben Klausmüller kniete und ihn auf die Beine stellte. Klausmüller knickte
einmal hinten und einmal vorne weg, dann war er wieder gängig. Er versprach,
wenn er diesem ungestümen Jungen noch einmal begegnen sollte, sähe Klausmüller
aber zu, dass die Sonnenbrille ordentlich Energie habe, und dann würde
Fellkugel Klausmüller diesen Knirps da aber so was von rasant von dem rollenden
Brett holen. Da solle der sich mal warm anziehen. Und nicht nur so ein wehendes
Tischdeckenhemd.
Nach diesem Vorfall hatte Klausmüller schon gar keine Lust mehr auf
Kapellen und Gespenster, zumal das Gotteshaus noch ein gutes Stück entfernt
war. Außerdem tat jetzt seine Hüfte weh.
Er stand da und schaute Klara mit seinen treuen braunen Stofftieraugen
an. Die Dreizehnjährige seufzte und stieg abermals vom Pferd, hob ihren Esel
hoch, steckte ihn in den Rucksack und setzte sich erneut aufs Reittier. Und für
den Rest des Weges schaukelte Klausmüller entspannt hinter Klaras Rücken, wo er
auch seinem eigenen kleinen Stoffesel Emil ein wenig Ausblick verschaffte,
indem er ihn aus den Tiefen des Rucksacks hochholte.
Klausmüller genoss die Aussicht sehr, die er hier oben hatte. Vor
allem, weil er nun höher war als Tessa. Von Zeit zu Zeit streckte er ihr seine
kleine Eselszunge entgegen, was Tessa allerdings gar nicht wahrnahm. Sie war
viel zu sehr mit Laufen, Hecheln und den Gerüchen des Waldes beschäftigt. Denn mit
ihrer Besitzerin, Frau Greismann, war sie meistens nur eine Runde durch die
Siedlung unterwegs. Fielen der alten Frau die Spaziergänge doch langsam etwas
schwer.
Klausmüller fand es zwar eigentlich schrecklich, von einem Pferderücken
getragen zu werden, gegen den Transport auf Klaras Rücken hatte er allerdings nichts
einzuwenden. War irgendwie bequemer als selbst laufen.
Und dann sah er sie auch schon: die Gespenster! Klausmüllers Augen
wurden groß.
Sie waren gar nicht in der Kapelle. Nein! Dort oben neben den komischen
Gebäuden, dort blinkten sie auf! Sie strahlten ein blaues Licht aus, das
zwischen den Bäumen und Zweigen des Waldes aufleuchtete.
»Da!« Klausmüller wurde ganz zappelig in dem engen Rucksack. »Da sind
sie!« Er hämmerte mit seinem kleinen Huf gegen Klaras Wange, weil er ihr doch
zeigen wollte, in welche Richtung sie schauen musste. »Uaah!«, rief er und
verkroch sich zurück ins Dunkel des Rucksacks. Und als er tief unten saß, zog
er Emil zu sich herunter. Zu Klara rief er hoch: »Pass auf! Sie haben uns
entdeckt. Sie haben mich geblendet! Ich kann nichts sehen.«
Dumpf hörte er Klaras Stimme, die da sprach: »Das liegt an deiner
Sonnenbrille, die du im dunklen Rucksack vor deinen Augen trägst.«
Er nahm die Brille ab. Im Rucksack war es immer noch dunkel. Doch
erkannte er die Umrisse von Emil. Kurze Zeit später spürte er, wie Klara vom
Pferd stieg. Klausmüller hielt den Atem an. Fest drückte er Emil an sich.
Klara sprach jetzt mit den Gespenstern. Sie begrüßte sie freundlich und
fragte, ob etwas passiert sei.
Ein Gespenst sprach die Worte: »Was macht ihr denn hier?«
Klausmüller hörte es ganz deutlich. Eine unverschämte Frage, fand der
Esel, noch dazu eine Frage auf eine Frage, der doch eine Antwort zu folgen
hatte und keine Frage. Und überhaupt. Diese Gespensterstimme, die kam ihm
irgendwie bekannt vor.
Vorsichtig lugte Klausmüller aus dem Rucksack.
Ha! Er hatte es gewusst! Vor Klara und Joey hatte sich Walter Wamsmann
aufgebaut, der dicke Polizist, der sämtliche Döner- und Pizzabuden der Umgebung
kannte. Und das nicht nur von außen.
Nicht weit von ihm entfernt stand Christian Neumann, der andere
Polizist, den sie auch bereits von ihren diversen Verbrecherjagden kannten.
Was machten die denn hier?
Neumann unterhielt sich gerade mit einem schwarzen Gespenst mit
Frauengesicht. So eine Gestalt hatte Klausmüller noch nie gesehen.
Der Esel kletterte aus dem Rucksack, hangelte sich unbemerkt daran
hinunter, ließ sich auf Tessas Rücken fallen und puffte den Hund ein paarmal
mit seinen kleinen Hufen ins dicke Fell. Schwerfällig setzte Tessa sich mit dem
in ihr wuscheliges, langes Fell gepressten Stoffesel in Bewegung.
Eigentlich hatte Klausmüller vorgehabt, sich das schwarze Gespenst aus
der Nähe anzusehen. Doch auf dem Weg dorthin kamen sie an dem Polizeiauto von
Neumann und Wamsmann vorbei. Klausmüller stellte fest, dass er sich vor ein
paar Minuten keineswegs vor irgendwelchen Gespenstern im Rucksack versteckt
hatte, sondern vor dem Blaulicht, das immer noch auf dem Dach des Polizeiautos
blinkte. Der Esel war fast ein bisschen böse über so eine Irreführung. Darum
warf er dem Licht auch einen verächtlichen Blick zu. Gleichzeitig jedoch fingen
seine Augen etwas sehr Entscheidendes ein. Es lag auf dem Beifahrersitz.
Klausmüller konnte es gut sehen, denn die Fahrertür stand weit auf.
Kurz schaute er sich um, dann handelte er. Von Tessas Rücken sprang er
auf den Fahrersitz, von dort übersprang er die Mittelkonsole des Autos und
landete auf dem Beifahrersitz. Jetzt schnappte er sich die dort so
verführerisch und einsam herumliegende Kekspackung, hüpfte aus dem Auto und
sauste in Windeseile und in geduckter Haltung zu Klara. Auf dem Weg zu ihr, neben
Joeys Füßen, rutschte ihm die Plätzchenpackung aus dem Maul. Nur einen klitzekleinen
Keks konnte er retten. Den umschloss er ganz fest mit seinen Esellippen. Schnell
kletterte er zurück in den Rucksack, der neben Klara auf dem Boden stand.
Wahrscheinlich hatte Klara ihren Esel bereits darin gesucht.
Klausmüller machte es sich in seiner Rucksackhöhle gemütlich und genoss
seinen geretteten Keks. Sein Kiefer malmte ordentlich. Trotzdem hörte er
Wamsmanns Stimme. Und die ließ ihn vor Schreck innehalten.
»Neumann!«, rief der. »Komm her! Ich hab den Dieb.«
Klausmüllers Kopf wurde heiß wie Grillkohle. Er fühlte sich sehr
schuldig. Sein Herz pochte und er war überzeugt, dass über ihm Wamsmanns dickes
Gesicht anklagend auf ihn herabblickte. Klausmüller hielt die Luft an.
Millimeter für Millimeter hob der Esel seinen Kopf, bis sein Blick die Reißverschlussritze
erfasste. Puh!, strömte die eben noch angehaltene Luft aus ihm heraus. Ihm
blickte kein Wamsmann-Gesicht entgegen.
Was hatte Wamsmann denn mit »Ich hab den Dieb« gemeint? Klausmüller
runzelte die Stirn. Ganz vorsichtig schob er sich nach oben zum
Rucksackausgang. Als er hinausblickte, erkannte er das Malheur: Wamsmann stand
vor Joey. Der Zeigefinger seiner linken Hand deutete auf die am Boden liegende
Keksrolle, der Zeigefinger seiner rechten Hand drohte Joey. Auweia!
Und dann erfuhr Klausmüller, dass Joey noch etwas anderes geklaut haben
sollte: Opfergelder!
Oh mein Gott! Opfergelder! Klausmüller wurde übel. Das hörte sich ja
schrecklich an! Was waren denn nur Opfergelder? Und die sollte Joey gestohlen
haben? Nur weil Klausmüller ein paar Kekse zu seinen Füßen verloren hatte? In
Klausmüllers Kopf rauschte es. Er zog sich wieder tiefer in den Rucksack
zurück.
»Wie denn? Wann denn?«, fragte Joey. Und er baute sich mutig vor
Wamsmann auf. Klausmüller sah es durch den Reißverschlussritz.
Das Wie-denn-und-wann-denn gab Neumann jetzt auch zu bedenken.
Klausmüller atmete etwas auf. Der gute Neumann. Der verdächtigte sie zum Glück
nicht so schnell wie sein Kollege. Sie würden doch niemals Geld von Opfern
klauen. Klausmüller schüttelte den Kopf. Und auch Nicht-Opfern würden sie kein
Geld entwenden. Da war Klausmüller sicher. Was Wamsmann für Ideen hatte!
Auch Klara verteidigte Joey. Außerdem hob sie die Keksrolle auf und
reichte sie Wamsmann mit den Worten, dass sie ihm wohl aus der Tasche gerutscht
seien.
Prima, Klara!, dachte Klausmüller, als Wamsmann kommentarlos die
Keksrolle an sich nahm. Na ja, eigentlich auch schade. Klausmüller hätte gerne
noch ein Plätzchen mehr gehabt. Allerdings verschwanden die nun in Wamsmanns
Jackenausschnitt. Der Esel seufzte.
Klausmüller schaute so lange seinen Keksen hinterher, bis sich Klaras
Gesicht in sein Blickfeld schob. Das Gesicht sah alles andere als gut gelaunt
aus. Und aus dem Mund schlugen ihm genuschelte Worte entgegen, die nicht
freundlich klangen. Er verstand so etwas wie »spinnst du« und »wir sprechen uns
noch«. Klausmüller verkroch sich lieber in die Ecke zu Emil. Der war wenigstens
auf seiner Seite. Schließlich war er sein Stofftier.
Jetzt hörte Klausmüller eine Frauenstimme. Nanu, wer war das? Er richtete
sich erneut auf und spähte durch den Ritz. Ah! Das Gespenst. Und es verteidigte
ebenfalls Joey. Sehr gut! Gutes Gespenst! Doch mit einem Mal wurde es
Klausmüller wieder ganz mau im Magen. Das schwarz gewickelte Gespenst
behauptete nämlich, den Dieb gesehen zu haben. Klausmüller biss sich auf die
Lippen und erwartete die Beschreibung seiner wunderschönen Figur: graues,
elegantes, akzentuiert abstehendes Fell, hübsche lange Ohren, super gepflegte
Hufhornhaut, zarter Schweif.
Stattdessen hörte er »rot-kariertes Oberteil, klein und etwas gedrungen«.
Klausmüller starrte an sich herab. Hä? Hatte die schwarz Umhüllte keine
Augen im Kopf? Wo hatte sie in seinem Fell das Rot gesehen? Und wo kariert?
Plötzlich erkannte er, dass es gar nicht mehr um die Keksrolle ging.
Die Kekse waren längst vergessen. Es ging abermals um die Opfer. Oder um deren
Gelder?
Klausmüller atmete auf. Dann war er ja raus aus dem Spiel. Nochmals
schaute er an sich entlang. Kein Rot. Kein Kariert.
Und doch runzelte er die Stirn. Warum kam ihm das plötzlich so bekannt
vor? Rot. Kariert. Klausmüller dachte nach. Rot. Kariert. Rot. Kariert. Plötzlich
sprang er auf, streckte einen Huf aus dem Rucksack heraus und hämmerte so lange
gegen Klaras Nacken, bis die endlich die Tasche vom Rücken nahm und zu ihm
hereinblickte.
Okay. Besonders freundlich sah sie immer noch nicht aus.
»Klara«, wisperte er, »Klara! Ich weiß, wer die Opfer bestohlen hat!«
»Welche Opfer?«, fragte Klara zurück. Schließlich raunte sie ihm noch
zu, still zu sein.
Klausmüller setzte sein Schmollgesicht auf und hockte
sich neben Emil in die Ecke. Dann eben nicht. War ihm auch egal, ob das Geld
wiederauftauchte. War ja nur Geld. Waren ja keine Kekse ...
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