Kapitel 1 (Juni 1946)
„Himmelsstern“ hatte er sie genannt. „Mein Himmelsstern.“
Anna umfasste das Band an ihrem Hals und schloss die Augen. So träumte es
sich schöner in die Welt hinein, die sie verloren hatte. Denn die Bilder hinter
ihren Augenlidern, die konnte ihr niemand nehmen. Sie hütete sie wie einen
Schatz.
„Träum nicht so viel“, sagte Mutter oft. Und auch: „Er kommt sowieso
nicht wieder.“ Dieser Satz tat besonders weh.
Anna saß an dem kleinen grauen Küchentisch und verlor sich in ihrer
vergangenen Welt, bis ein Schrei sie hochfahren ließ. Er kam aus dem Hinterhof.
Anna warf einen Blick aus dem Fenster. Ihre kleine Schwester Elfriede stand dort
unten, den Mund weit aufgerissen, die Augen zugekniffen und die Handflächen
fest auf die Ohren gepresst.
Anna rannte zur Zimmertür, polterte die schmale Holztreppe hinunter und
riss die Tür zum Hinterhof auf. Das Sonnenlicht flutete die Dunkelheit der
Diele. Anna schirmte ihre Augen mit der rechten Hand ab.
Elfriedes abgespreizten Ellbogen vibrierten, ebenso ihre blonden,
geflochtenen Zöpfe. Neben Elfriede stand die Ziege Lotte. Anna rannte auf die
beiden zu. Lotte huschte hinter ihren Futtertrog und beäugte Anna misstrauisch.
Elfriede hörte auf zu schreien.
„Friedchen, was ist los?“, fragte Anna.
Elfriede drehte sich um und deutete auf die Ziege. Die glotzte und
meckerte. Und vor ihrem Maul formte sich eine Seifenblase von anständiger
Größe.
„Warum meckert Lotte Seifenblasen?“ Anna schaute sich um.
Noch bevor Elfriede antwortete, entdeckte Anna die zwei Gestalten hinter
der Hauswand, die sich kichernd den Bauch hielten. Dann bemerkten sie Annas
Blick und huschten weg. Anna drehte sich wieder zu ihrer kleinen Schwester.
„Hat Lotte aus dem Trog gefressen?“
Elfriede nickte. Anna strich mit dem Zeigefinger durch den Futtertrog.
Sie führte die Hand zum Mund und berührte die weiße Substanz an ihren
Fingerkuppen mit ihrer Zungenspitze. Anna spuckte. Es war Salz, gemischt mit
Seifenpulver.
Na, da würden sogar die Jungs Ärger bekommen, wenn das rauskam,
schätzte Anna. Man verhunzte kein kostbares Salz. Nicht in Zeiten wie diesen.
Anna schielte noch einmal zur Hauswand, dann zog sie sich langsam zur
Tür zurück, aus der sie eben gekommen war. Sie hielt den Zeigefinger auf den
Mund und bedeutete ihrer achtjährigen Schwester, keine verräterischen Fragen zu
stellen, wenn sie sich nun nicht wieder ins Kuhstalldachgeschoss zurückbegab,
sondern sich an der alten, ehemals weißen Tür vorbeischlich. Sie eilte an dem
links neben dem Stalltrakt befindlichen Bauernhaus entlang und näherte sich von
hinten den beiden Gesellen, die an der Hauswand lehnten und sich an Lottes
Seifenblasenproduktion erfreuten.
Anna tippte den beiden auf die Schulter. Sofort wich der Spaß aus ihren
Gesichtern. Eine Schrecksekunde lang starrten sie Anna einfach nur an. Dann
mobilisierten sie ihre Muskeln und setzten zur Flucht an. Doch Annas Hände
umfassten bereits die Hosenträger der Bengel. Entschlossen schleifte sie die
Burschen zum Trog, presste ihre Köpfe hinein und wünschte ihnen einen guten
Appetit. Die Burschen jaulten, Anna grinste und Elfriede ploppte die Kinnlade
runter.
Der Ruf ihrer Mutter oben aus dem Fenster ließ Anna innehalten. Sie
seufzte.
„Schert euch fort!“, rief sie und ließ die Bengel los, die sich
schnellstmöglich aus dem Staub machten. Ziege Lotte gab noch einmal eine
Seifenblase zum Besten, und Elfriede verschmierte ihre Tränen mit ihrem nackten
Unterarm im Gesicht.
„Die werden hoffentlich vorläufig Ruhe geben.“ Anna bückte sich und
strich ihrer Schwester über die ausgemergelte Wange. „Komm“, sagte sie. „Wir
gehen in den Wald und suchen ein paar Kräuter für Lotte. Dann wird es ihr bald
bessergehen. Wir müssen sowieso noch ein paar Blaubeeren fürs Mittagessen
sammeln.“
Hand in Hand machten sie sich auf den Weg. In ihrer rechten Hand hielt
Elfriede das Seil, das sie mit Lotte verband.
„Wenn ich groß bin, gehe ich zum Zirkus. Da bringe ich den Löwen und
den Ziegen alles bei. Alles.“ Als sie die ersten Bäume des Waldes erreicht
hatten, war Elfriede wieder merklich besser drauf. „Komm schon, Lotte“, sagte
sie und zog an dem Seil. „Sei nicht so zickig.“
Die Baumwipfel des Waldes bogen sich im leichten Wind, als wollten sie
der Sonne die Chance geben, an diesem lauen Sommertag den Waldboden zu
begutachten. Die Vögel zwitscherten und die kleine graue Ziege schickte ein
Meckern in die Welt, dem eine im Sonnenlicht glitzernde Seifenblase folgte.
„Tja, scheint nicht ganz leicht zu sein, dein Beruf.“ Anna lachte und zog
ebenfalls an dem Seil, an dem sich bereits Elfriedes Schmutzfinger abmühten.
Dann übergab Anna Elfriede die kleine blecherne Milchkanne für die Blaubeeren.
„Normalerweise verhält sie sich netter“, verteidigte Elfriede das
Verhalten ihrer Ziege und ordnete Seil und Kanne in ihren Händen. „Sie hat
Bauchschmerzen wegen der blöden Seife. Wo sind denn jetzt die Kräuter, die du
suchen wolltest?“
„Moment.“ Anna bückte sich. „Ich glaube, hier haben wir schon welche.“
Sie schob ein paar Blätter eines Strauches beiseite und zupfte einiges an
Grünzeug ab. Dann hielt sie es Lotte vors Maul. Die Ziege schnupperte und
begann, die Blätter anzuknabbern. Anna übergab Elfriede den Blätterhaufen und sammelte
weitere Arzneien für die Ziege.
„Fein, Lotte.“ Elfriede strich der Ziege über den Nacken.
Anna reichte Elfriede noch ein paar Kräuter und stellte zufrieden fest,
dass die Schaumbildung beim nächsten meckernden Kommentar der Ziege bereits
nachgelassen hatte. Wenn sie nicht von ihrer Mutter Maria zurechtgewiesen
worden wäre, sie hätte die beiden Bengel den Trog leerfressen lassen.
Eigentlich war sie alles andere als gemein. Doch so, wie die Leute hier
auf dem Hildebrandt-Hof mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester
umsprangen, das konnte sie einfach nicht ertragen. Und dann noch Fritz und
Bertram, die Söhne von Bauer Hildebrandt. Die hatten nur Unsinn im Kopf. Und
meist war Elfriede das Opfer. Von den Hildebrandts schien das keinen zu
interessieren und auch Mutter Maria machte nie ihren Mund auf. Da musste sie
selbst halt einfach mal aktiv werden, fand Anna. Ihre Familie musste sich nicht
immer alles bieten lassen.
Familie, dachte Anna und senkte den Kopf. Wie klein ihre Familie
geworden war. Früher waren sie sieben. Jetzt drei. Keiner der männlichen
Familienmitglieder hatte den Krieg überlebt. Ein tiefer Schmerz machte sich
breit in Annas Brust.
Sie dachte an Gustav und Robert und die Geschichte mit dem Nikolaus.
Unwillkürlich musste sie grinsen. Ihre Brüder hatten ihr die Angst vor dem
Kirchenmann nehmen wollen, dem sie ein Gedicht aufsagen musste. Vor Aufregung
hatte sie nächtelang nicht schlafen können. Der sei doch gar nicht echt, hatten
die beiden Brüder behauptet. Das sei nur Nachbar Otto. Vor dem brauche sie
keine Angst haben.
Als nun der Nikolaus in die gute Stube vorgelassen wurde, wollten die Burschen
den Beweis antreten. Robert sprang ein wenig hoch und ergriff den Bart. Zugleich
kletterte Gustav aufs Sofa und riss dem Würdenträger die Mitra vom Haupt. Das
Haupt war kahl und der Bart blieb haften. Annas Augen wurden groß und die Beine
der Jungs flott. Nachbar Otto hatte keine Glatze. Und einen Bart hatte der auch
nicht. Hier war wohl doch ein anderer Nikolaus am Werke. Seinen Bischofsstab
vorstoßend nahm der bärtige, glatzköpfige Nikolaus die Verfolgung auf. Die Brüder
rannten um den Wohnzimmertisch und verschwanden durch die Außentür in der
Dunkelheit des Hofes.
„Lotte, dreh!“, rief Elfriede und riss Anna aus ihren Gedanken.
Anna schaute auf. Etwas seitlich vor ihr stand Elfriede und schob das
Hinterteil ihrer Ziege, während sie mit der anderen Hand versuchte, die
Vorderbeine platziert zu halten. Lotte kaute noch ein wenig auf dem Kraut, dann
wurde ihr das Geschubse wohl zu viel. Sie meckerte und machte sich davon. Das
Seil zog durch Elfriedes Handfläche, schlug auf den Waldboden und folgte der
Ziege. Ebenso Elfriede. Was stehenblieb, war die kleine Milchkanne. Typisch,
dachte Anna, griff nach der blechernen Milchkanne und ging den beiden
hinterher.
„Lotte, steh!“, rief Elfriede und Anna staunte. Die Ziege bleib
tatsächlich stehen und schaute sich nach Elfriede um.
„Nicht schlecht.“ Anna nickte anerkennend, als sie die beiden
erreichte. Sie drückte Elfriede die Milchkanne in die Hand.
„Und was willst du werden, wenn du groß bist?“, fragte Elfriede. Mit
hochgerecktem Kinn schaute sie ihre große Schwester an.
„Ich bin schon groß“, lachte Anna.
„Nein, ja, aber du bist ja noch nix.“
„Doch, ich bin ich. Und ich kann deine Ziege gesundmachen.“
„Dann bist du Tierärztin“, stellte Elfriede fest.
„So schnell wird man nicht Tierärztin.“
„Wann ist man denn Tierärztin?“
„Dazu muss man studieren und ganz viel lernen.“
„Hm.“ Elfriede dachte nach.
Anna strich ihrer Schwester über den Kopf. Dann trugen ihre Gedanken
sie zurück in die Zeit, als sie – ähnlich wie Elfriede jetzt – ihre Zukunft noch
vor sich gesehen hatte. Als sie Pläne geschmiedet hatte, ein Ziel hatte.
Doch dann kam der Krieg.
Und mit all seinem Grauen brachte er vor allem eins: Planlosigkeit.
Je mehr die deutsche Armee nach 1941 ins Stocken und dann in die
Defensive geriet, umso mehr geisterte das Wort „Endsieg“ durch die Lande, als
könne man durch die stetige Präsenz eines Wortes Einfluss auf den Kriegsverlauf
nehmen. Ab Februar 1943 machte zudem die Kunde von dem „Totalen Krieg“ die
Runde. Goebbels hatte diese Worthülse in einer Rede genutzt und Anna fragte
sich, was er damit meinte, denn dieser Krieg umfasste bereits alles und jeden.
Dann, Anfang fünfundvierzig, als die Rote Armee begann, Ober- und
Niederschlesien zu überrollen, da wurde das Leben, das Überleben von einem Tag
auf den nächsten immer prägender. Sie lebten von einen Tag auf den anderen, die
Leute, und mit ihnen Anna, Elfriede und Mutter Maria. Gebannt warteten alle auf
Nachrichten aus den Mündern derer, die aus dem Osten, aus Oberschlesien, kamen
und Zuflucht bei Glatzer Verwandten, Bekannten oder auch Fremden suchten. Die
alles beherrschende Frage war: Wie weit war die Front noch entfernt? Wann
würden die Russen die Glatzer Gegend erreichen? Kam das ferne Donnergrollen
bereits näher?
Und als es schließlich so weit war, glichen die Stadt und die Dörfer
rundherum Geisterstätten. Geisterstätten, durch die sich in langen Reihen schwerfällig
die russischen Panzer schoben. Die dominierenden Farben waren das Laubgrün der
Panzer und das Weiß der Bettlaken, die wie ein Flehen aus den Fenstern der
einzelnen Häuser hingen. Der Ring, wie die Schlesier ihren zentralen Punkt, den
Marktplatz stets nannten, war voll mit russischen Panzern und feiernden
Soldaten. So auch in Bad Kudowa. Hier und da huschte ein Einwohner durch die
Straßen, wie ein Schatten, der dort nichts zu suchen hatte.
Dann war der Krieg zu Ende. Und man wartete weiter die Tage ab, wartete
darauf, dass irgendetwas geschah. Ziellos waren die Schlesier, ziellos und
planlos. Bis selbst die Tage ihren fortschreitenden, zeitgebenden Charakter
verloren und einem lediglich hin und wieder ein Blick auf die beinahe kahlen
Bäume verriet, dass der Herbst bereits da war. Bis dahin hatten bereits die
Polen die Russen abgelöst und die waren ebenso voller Wut auf die Deutschen wie
die Rote Armee. Ab dem Frühjahr 1946 mussten alle Deutschen eine weiße Armbinde
mit dem schwarz gefärbten Buchstaben „N“ tragen. Das „N“ stand für „Niemiec“ –
Deutscher. Nun waren sie gekennzeichnet und kurze Zeit später wurden sie
ausgewiesen. Das Ziel lag irgendwo im Westen.
Anna und der kleine Rest ihrer Familie hatte es ins Münsterland
verschlagen. Doch es war nicht das Ziel der hier lebenden Menschen, die Vertriebenen
willkommen zu heißen. Und das ließen sie sie spüren, die Taugenichtse aus dem
Osten.
Und irgendwann unterwegs, in ihrer sich wandelnden Heimat oder während
des Transportes in einem der Viehwaggons, in denen die Leute mit dem N auf der
weißen Binde um den Arm steckten, da hatte Anna ihn wohl verloren: ihren
Lebensplan, ihr Ziel.
Ärztin zu werden.
Hier war sie nur eins: ein Nichts.
Und sie hatte es noch nicht geschafft, ihr Leben wieder mit irgendeinem
Sinn zu füllen. Sie lebte im Nachbardorf von Elfriede und Mutter in einem
winzigen Zimmer, in das gerade mal eine Bettstelle, eine Waschschüssel, ein
Stuhl und eine Kommode passte. Dafür durfte sie dort im Haushalt helfen. Ihre
Hausherren, die keineswegs freiwillig eine Vertriebene aufgenommen hatten,
hatten ihr zu verstehen gegeben, dass die kleine Kammer einem
Prinzessinnenreich gleichkäme für so einen Habenichts aus dem Osten. Anna
dachte an ihr Zimmer, ihr Haus in Schlesien und fand den Prinzessinnenvergleich
eher unpassend. Doch immerhin hatten sie eine feste Bleibe, und endlich mussten
sie keine Angst mehr haben vor Bombern, Gewehren, Schüssen und Schreien.
Anna seufzte und spürte, dass jemand an ihrem Kleid zupfte. Sie senkte
den Blick und schaute in die strahlend blauen Augen ihrer Schwester.
„Sollen wir hier sammeln?“ Elfriede zeigte auf die Blaubeersträucher,
die sich um sie herum ausbreiteten. Anna nickte und begann, die Beeren in die
blecherne Milchkanne, die sie neben sich gestellt hatte, gleiten zu lassen. Viele
Beeren waren noch grün, sie würde ihre große Milchkanne nicht vollkriegen. Die
Hochsaison begann erst noch. Doch sie sammelten bereits jetzt, Mitte Juni,
alles ein, was sie finden konnten.
Die Vögel zwitscherten und mit leisem Plopp landeten die Beeren in der
Kanne. Es war ein gleichmäßiges, ruhiges Geräusch. Annas Gedanken schweiften wieder
ab.
Doch dann war da plötzlich dieses Knacken. Und ein Röcheln.
Anna schreckte hoch. Die Blaubeeren fielen neben die Milchkanne und
verschwanden zwischen den Blättern und Zweigen eines Strauches.
Auch Elfriede war aufgesprungen. Ängstlich blickte sie zu Anna. Anna
suchte den Wald ab. Dann erblickte sie ihn. Keine dreißig Meter von ihnen
entfernt hing er an einem Baum.
Elfriede schrie und hielt sich die Ohren zu. Lotte sprang erschrocken
davon. Anna rannte los. Lotte hinterher. Sie durfte keine Zeit verlieren.
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